"Eklatantes Fehlurteil"Sony attackiert das Internet und siegt vor dem Landgericht

Das Landgericht Leipzig wirft dem DNS-Anbieter Quad9 vor, als Täter zur Verletzung des Urheberrechts beigetragen zu haben. Dabei übersetzt der Anbieter nur den Namen einer Website in eine IP-Adresse. Gegen das Urteil will sich Quad9 nun vor dem Oberlandesgericht Dresden wehren.

Eine Abrissbirne und das Logo von Sony
Urheberrechtsdurchsetzung mit der Abrissbirne (Symbolbild) – Abrissbirne: IMAGO/agefotostock; Logo: IMAGO/AFLO, Montage: netzpolitik.org

Der DNS-Anbieter Quad9 sei als Täter für Verletzungen des Urheberrechts verantwortlich, urteilte am Mittwoch das Landgericht Leipzig. Er müsse zwei Einträge aus seiner DNS-Datenbank entfernen, beziehungsweise dafür sorgen, dass sie über seinen Dienst aus Deutschland nicht aufrufbar sind. Sonst droht ein Ordnungsgeld von bis zu 200.000 Euro oder eine Haftstrafe von bis zu zwei Jahren, so das Gericht. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, Quad9 wird vor dem Oberlandesgericht Dresden in Berufung gehen.

Geklagt hatte die Sony Music Entertainment Germany GmbH. Sie hält die Rechte am Musikalbum „The Bitter Truth“ von Evanescence, das auf einer Website illegal zum Download angeboten wird. Diese Seite verlinkt auf einen Filehoster, wo die eigentlichen Daten liegen. Dort ließen sie sich nicht entfernen. Die Klägerin habe „alle denkbaren Anstrengungen unternommen, das rechtsverletzende Angebot unter Einschaltung von primär Haftpflichtigen zu beseitigen“, heißt es im Urteil, das der Redaktion vorliegt. Die Löschaufforderungen an den Hosting-Dienst seien jedoch erfolglos geblieben, weshalb Sony nun den DNS-Betreiber Quad9 ins Visier nahm.

Das ursprünglich von einem US-Industriekonsortium gegründete Quad9 sitzt inzwischen in der Schweiz und wird von einer gemeinnützigen Stiftung betrieben. Der Anbieter positioniert sich als datenschutzfreundliche Alternative zu vergleichbaren Diensten wie dem DNS-Resolver von Google. Unterstützung in der juristischen Auseinandersetzung erhält Quad9 von der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF), die die Netzsperren als einen schweren Eingriff in das Grundrecht auf Informationsfreiheit beschreibt.

DNS als Bindeglied des Internets

DNS-Resolver sind ein wichtiges Bindeglied des Internets, die kaum bemerkt im Hintergrund arbeiten. Sie übersetzen den Namen eines Internet-Dienstes, etwa einer Website, in eine IP-Adresse. Mit diesen Adressen bauen die Computer eine Verbindung untereinander auf, während sich Menschen nur den Namen des Online-Dienstes merken müssen.

Praktisch jeder Netzbetreiber stellt seinen Kund:innen einen DNS-Resolver bereit, alternativ bieten auch IT-Größen wie Google (8.8.8.8), Netzaktivist:innen wie Digitalcourage (5.9.164.112) oder eben auch Quad9 (9.9.9.9) eine öffentlich zugängliche Namensauflösung an. Nutzer:innen müssen in ihren Systemeinstellungen nur die IP-Adresse des gewünschten DNS-Servers eintragen, um den Anbieter zu wechseln.

Schon vor zwei Jahren hatte Sony in einem Eilverfahren eine einstweilige Verfügung gegen Quad9 vor dem Landgericht Hamburg erwirkt. Demnach gilt Quad9 als sogenannter „Störer“, der sich nicht auf die sonst üblichen Haftungsprivilegien für Vermittlerdienste berufen könne. Eigentlich schließt das Telemediengesetz (TMG) – und auf EU-Ebene die E-Commerce-Richtlinie sowie künftig der Digital Services Act – die reine Durchleitung von Informationen von einer Haftung aus. Den Richter:innen zufolge habe Quad9 aber dennoch einen „adäquat-kausalen Beitrag“ dazu geleistet, die inkriminierten Sites erreichbar zu machen.

Telemediengesetz greift nicht

Laut dem Landgericht Leipzig, wo das Hauptsacheverfahren stattfindet, ist das Telemediengesetz aber gar nicht der richtige juristische Hebel. Quad9 sei kein Diensteanbieter im Sinne des TMG, dazu müsste er „durch seine Weisungen oder seine Herrschaftsmacht über Rechner und Kommunikationskanäle die Verbreitung oder das Speichern von Informationen ermöglichen und nach außen als Erbringer von Diensten auftreten“, heißt es im Urteil. Dies sei aber nicht gegeben.

Stattdessen hafte Quad9 als Täter nach dem Urheberrechtsgesetz, weil „sie Internetnutzern ihren DNS-Resolver zur Verfügung stellt und darüber auf die Seiten des Dienstes canna.to mit den rechtsverletzenden Downloadangeboten betreffend das streitgegenständliche Musikalbum verwiesen wird.“ Dadurch spiele Quad9 „eine zentrale Rolle bei der Rechtsverletzung“, jedenfalls für diejenigen Nutzer:innen, die den Quad9-DNS verwenden.

Auch weitere Einwände ließ das Gericht nicht gelten. So würde etwa die verlangte Umsetzung einer DNS-Sperre für Quad9 „eine unverhältnismäßige Belastung in rechtlicher und technischer Hinsicht“ darstellen und den Fortbestand des Angebots gefährden, argumentiert der Anbieter. DNS sieht etwa keine landesspezifischen Sperren vor, der Anbieter müsste also die Software umschreiben und eine höhere Belastung für diese Systeme in Kauf nehmen. Dem stellt das Gericht entgegen, dass Quad9 ja auch Domains ausfiltere, die Schadsoftware verteilten.

„Völlig neutraler Infrastrukturdienst“

Eine gegebenenfalls global umgesetzte Sperre wäre laut dem Gericht unschädlich. „Auch weltweit ist kein berechtigtes Interesse der Internetnutzer auf Zugriff auf diese Webseite mit offensichtlich ausschließlich illegalen Angeboten ersichtlich, so dass sich die Frage eines Overblockings nicht stellt“, führt das Urteil aus.

Für Felix Reda, der bei der GFF das Projekt Control © leitet, hat das Landgericht Leipzig in erster Instanz ein „eklatantes Fehlurteil“ gefällt. „Es behandelt Quad9 so, als würde der Dienst selbst eine Urheberrechtsverletzung begehen, obwohl er bloß einen Webseitennamen in eine IP-Adresse auflöst“, sagt Reda. Folge man dieser Argumentation, wäre die urheberrechtliche Haftung völlig neutraler Infrastrukturdienste wie Quad9 sogar strenger als die sozialer Netzwerke, die unter den berüchtigten Artikel 17 der EU-Urheberrechtsrichtlinie fallen, so der ehemalige EU-Abgeordnete.

Im Netz witzeln Nutzer:innen, dass man ja dann auch in Zukunft die Autobahn für Kriminelle sperren müsste, Telefonbuchverlage wegen Beihilfe zum Mord verklagen oder die Stromanbieter für Urheberrechtsverletzungen belangen könne.

Gericht sieht sogar Pflicht zur Vorsorge

Für weitere Irritationen sorgt überdies die Auflage des Gerichts, der Betreiber müsse „zumutbare Vorsorgemaßnahmen ergreifen, mit denen das Hochladen von Dateien mit vergleichbarem rechtsverletzenden Inhalt in Zukunft verhindert wird“. Er sei „zum anderen auch zur Beseitigung fortdauernder und damit in die Zukunft reichender Rechtsverletzungen verpflichtet“. Eine Beschränkung des Anspruchsumfangs auf den konkreten Fall wäre mit einer wirksamen Durchsetzung von Urheberrechten unvereinbar, heißt es unter Verweisen auf das Glawischnig-Urteil des Europäischen Gerichtshofes und das YouTube-Urteil des Bundesgerichtshofes (BGH). Quad9 müsse nicht nur Hinweise auf illegales Material prüfen und umsetzen, sondern habe auch die Pflicht zur Vorsorge, dass es künftig nicht zu weiteren gleichartigen Rechtsverletzungen kommt.

Doch an anderer Stelle stellt das Urteil klar, dass Anträge auf Netzsperren laut BGH-Rechtsprechung bestimmt sein müssen. Sie müssen genau benennen, welche Domains zu sperren sind, erklärt Felix Reda auf Anfrage von netzpolitik.org. Diese Domains sind nach Einrichtung einer DNS-Sperre aber vollständig nicht erreichbar, insofern komme es gar nicht darauf an, ob auf den entsprechenden Webseiten mehrere gleichartige Rechtsverletzungen stattfinden oder nicht.

„Das gesamte Urteil erweckt den Eindruck, als hätte das Gericht aus Unkenntnis der Materie einzelne Bausteine der BGH-Rechtsprechung zu anderen Sachverhalten kopiert, insbesondere bezüglich Plattformen wie YouTube oder Facebook, die auf DNS-Resolver schlichtweg nicht anwendbar sind“, so Reda weiter.

19 Ergänzungen

  1. Ich wusste ja, dass Schilda in Sachsen liegen soll, aber dass es „L-e-i-p-z-i.g“ buchstabiert wird ist mir neu.

    1. Ergänzung: ich kann mir das Urteil eigentlich nur so erklären, dass der/die vorsitzende Richter*in kurz vor dem Ruhestand steht. Auf die Details der Urteilbegründung bin ich jedenfalls gespannt – bitte verlinken sobald sie vorliegt.

  2. Wollen wir hoffen, dass das das Urteil Bestand hat. Denn erst, wenn die letzte freie Webseite durch die Angebote der medialen Abzocke und Propagandamafia ersetzt sind, wird der Michel eventuell wach …

  3. Ich würde gerne eine Entscheidungsanmerkung schreiben – habt ihr vielleicht einen (anonymisierten) Scan des Urteils für mich?

    1. Leider noch nicht, das LG Leipzig will es uns aber zusenden, sobald sie mit dem Schwärzen durch sind. Wir werden es dann veröffentlichen.

  4. Juristische „Logik“ > Fachliche Logik.

    Luftschleusenunfall (mit KI): „Luft mit geringem Stickstoffanteil ist noch nicht als Atemluft eingeordnet worden, daher kann es nicht als Luft gelten und wurde somit rechtmäßig abgesaugt. Bei dem Todesfall von M. handelt es sich um einen natürlichen Tod infolge eines unvorhersehbaren Saurstoffmangels. Einen Zusammenhang zwischen Luft und Luft kann hier nicht hergestellt werden, da offenbar keine Atemluft vorhanden war. Daher ist das Absaugen von nicht gegebener Atemluft auch nicht als ursächlich für den Tod von M. anzusehen.“

    Besonders interessant, wie subtil hier der technische und der juristische Begriff von Luft nebeneinandergestellt werden.

  5. Kann man denn in jeder x-beliebigen Stadt klagen?
    „So-Nie“ vom Hamburg-Fall sitzt in München, jetzt wird in Leipzig gegen eine Firma in Zürich geklagt…

    1. Das nennt sich fliegender Gerichtsstand und greift, wenn die Rechteverletzung überall im Bundesgebiet stattfindet.

  6. das erste urteil wozu chat gpt die urteilsbegründung verfasst hat?
    hoffe doch das so ein urteil kein bestand hat in der nächsten instanz.

  7. Noch ein Gedanke, am Ende des Tages ist von Grundsatz her in jedem Access-Router diese Art von Proxy vorhanden. Es ist nicht weiter schwierig daraus zu folgern, dass man solche Sperren auch von z.B. AVM in den Fritzboxen fordern kann.

    1. Dein LAN-Router gibt die DNS-Anfragen an deinen ISP weiter, der schließlich die Namensauflösung macht. Dort wird bereits auf Geheiß von Rechterecyclern gesperrt. Stichwort CUII.

      Selbst wenn du einen anderen DNS-Resolver in den Router-Einstellungen setzt, wird der Router immer noch nicht selbst die Namensauflösung machen.

      Mir ist kein Router bekannt, der eine Software wie unbound vorinstalliert und die Namensauflösung übernimmt, statt sie abzugeben.

  8. Das Urteil zeigt ganz deutlich, daß die Rechtsprechung nicht mit der technischen Entwicklung mithalten kann und die Richter massiv überfordert sind, über technische Vorgänge zu urteilen, die sie nicht im Geringsten verstehen. Und es zeigt, daß Sony Musik langfristig nicht überleben wird, wenn es weiterhin an seinen heute nicht mehr zeitgemäßen Geschäftsmodellen festhält und nach Richtern ohne Sachkenntnis sucht, um diese durchzusetzen. Und es zeigt, daß sich der Gesetzgeber die regelungsmacht längst von den Gerichten hat aus Hand nehmen lassen (siehe Störerhaftung). Vielleicht sollten Gesetze zur Abwechslung mal wieder klar und einfach formuliert werden (so wie das alte BGB) und nicht verschwurbelt formuliert werden, um den Bürger zu täuschen und zu verarschen.

    In diesem Falle kann ich nur empfehlen einen eigenen Resolver zu betrieben, der ist nicht nur vom Datenabfluß und Logging besser kontrollierbar sondern auch gegen Manipulationen unempfindlich, solange der root Server und authoritativen Server nicht manipuliert sind.

  9. Aufgrund der Klage von Sony Music Entertainment Germany GmbH habe ich mich dazu entschieden, Produkte von Sony Music Entertainment konsequent nicht mehr zu kaufen.

    Der Rechtsstreit ist ein sinnbefreiter Angriff auf die Infrastruktur des Internets (DNS-Server). Ich konnte es mir bisher kaum vorstellen, dass fehlgeleitetes Denken und mangelnde Kenntnisse der Funktionsweise des Internets bei Richtern so fatale Folgen haben können.

    Richter sollten sich mal überlegen, dass Gerichte keinen Rechtsanspruch darauf haben, dass DNS-Service-Provider die domainnames von Gerichten auflösen müssen.

    1. „Aufgrund der Klage von Sony Music Entertainment Germany GmbH habe ich mich dazu entschieden, Produkte von Sony Music Entertainment konsequent nicht mehr zu kaufen.“

      Sehe ich genauso. Wollte mir eigentlich die PS5 gönnen. Hab das Vorhaben aber aufgegeben.

  10. Wenn Sony gegen Quad9 geklagt hat muss es ein Zivilprozess sein. Wenn das Gericht nun festgestellt hat, dass Quad9 Täter ist … müsste dann jetzt nicht auch ein Strafprozess folgen? Das Urheberrechtgesetz sieht immerhin Gefängnisstrafen für Urheberrechtsverstöße vor.

  11. Wäre ich Quad9, dann würde ich von meinem Hausrecht gebrauch machen und keine Anfragen mehr von irgend jemandem bei mir „reinlassen“ der auch nur irgendwie mit so einem Urteil zu tun hat. Und da sollten dann auch am besten gleich alle Provider mitmachen. Denn letzlich betrifft das wirklich jeden Dienstanbieter der als potentieller Mittäter haftbar gemacht werden soll. Mal sehen wie schnell denen das Lachen vergeht, wenn die Seiten und Dienste dieser Leute nicht mehr erreichbar sind oder deren Anfragen nicht mehr aufgelöst werden können.

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